Schuß/Gegenschuß

Interview mit Jordan Crandall von Rosanne Altstatt

 

Rosanne Altstatt: Obwohl du mehr für deine Film- und Videoarbeiten bekannt bist, möchte ich dieses Interview doch mit einer Frage zu deinen Diagrammen beginnen, deren Dynamik sich so grundlegend von dem glatten Eindruck, den deine bewegten Bilder machen, unterscheidet. Die Bleistiftzeichnungen wirken viel intimer, als würde ihnen eine wirbelnde Kraft innewohnen. Wie stehen die beiden zu einander im Verhältnis?

 

Jordan Crandall: Mit den Diagrammen beginnt meine Arbeit. Sie sind der Schlüssel zu allem. Sie bilden die Prozesse ab, aus denen die Struktur, der Inhalt und das Tempo resultieren. Und viele von ihnen bewegen sich in einem sehr persönlichen Bereich, nah am Körper – sie handeln von dem Raum zwischen Auge, Bildsucher und Auslöser. Da ich immer tiefer in psychologisches Gebiet eindringe, bin ich froh, dass die Diagramme eine solche Intimität evozieren, gerade weil auch sie mit größeren militarisierten Systemen zu tun haben. Darüber hinaus zeigen sie echtes Handwerk, was ebenso aktuell ist wie alles technisch Vermittelte.

 

RA: In der ersten Woche unserer Ausstellung im Edith-Ruß-Haus für Medienkunst willst du einen Workshop über die Entstehung deiner neuesten Arbeit, Trigger, durchführen. Was erhoffst du dir von diesem Workshop?

 

JC: Um diese duale Projektionsinstallation präzise zu inszenieren, müssen zahlreiche Tests durchgeführt werden. Die Raumgröße des Edith Ruß Hauses ist perfekt, um die Dynamik zwischen den Akteuren auf der Leinwand, den Projektionsmaßstab und die Sehgewohnheiten des Publikums zu überprüfen. Wir werden in einer Improvisation des eigentlichen Filmsets verschiedene Testszenen drehen und diese dann direkt auf die Wände projizieren, um zu sehen, wie sie funktionieren. Anhand dieser Tests wird während der Ausstellung läuft ein endgültiges Storyboard entwickelt.

 

RA: Trigger wird auf zwei gegenüberliegende Wände projiziert werden. Warum hast du diese Form gewählt?

 

JC: Ich möchte die Zuschauer in das Drama zwischen den beiden Gestalten, die einander jagen, einbeziehen. Man wird sich ganz umdrehen müssen, um die eine oder die andere Leinwand vor Augen zu haben. Auf diese Weise wird man nie die gesamte Produktion von einem komfortablen externen Standort aus als Ganzes erfassen können. Das ist viel schwerer, als sich nur auf eine Leinwand zu konzentrieren. Das Video läuft schnell, und man wird es jedes Mal anders erleben, weil man körperlich genauso hellwach sein muss wie die Akteure auf der Leinwand. Du musst schnell, konzentriert und behände sein wie ein guter Soldat.

 

RA: Ziehst du wirklich eine Parallele zwischen den Fähigkeiten eines Soldaten und den Fähigkeiten des Betrachters?

 

JC: Insoweit, als sich beide in einem Zustand der Hyper-Wachsamkeit befinden, in dem alle Sinne geschärft sind.

 

RA: In der Geschichte geht es um zwei Soldaten, die sich gegenseitig durch ihr Visier beobachten. Ein Thema, das man aus vielen Hollywood-Kriegsfilmen kennt. Hattest du bei der Konzeption von Trigger bestimmte Filme im Kopf?

 

JC: Ja, es gibt Unmengen Vorläufer aus Hollywood, zahllose Kriegsfilme, die ich gesehen habe. Die Punkte, auf die ich mich beziehe, sind kurze, meist strukturelle Momente, in denen es zu irgendeiner subtilen Einmischung der Kamera kommt. Man bemerkt sie gar nicht, solange man nicht gezielt danach sucht. Beispielsweise die Szene in Kubricks Full Metal Jacket, in der die Kamera mit dem Gewehr des Soldaten nach oben schwenkt und sich am Visier des Soldaten auszurichten versucht. Die Kamera, das Auge des Publikums, Kimme und Korn am Gewehr des Soldaten und der Blick des Soldaten müssen zur Deckung gebracht werden, damit der Schuss sitzt – der Schuss, der die Aufnahme auslöst und gleichzeitig das Leben seines menschlichen Ziels auslöscht. Durch die lineare Ausrichtung von Auge, Zielvorrichtung und Bildsucher bricht eine Art Artillerie hervor, zusammengeführt durch die Hand am Auslöser beziehungsweise am Abzug, in dem der Herzschlag von Mensch und Maschine eins werden. Ich suche die Kamera, die niemals unschuldig ist, die Suchereinrichtungen, die stets Kontrolltechnologien und Konventionen unterliegen, und die Beschaffenheit des Aufnahme/Schuss-Opfers.

 

RA: Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sich jeder, der im Bildsucher einer Kamera auftaucht, gleich als Opfer empfindet – aber wie sähe dann die Beschaffenheit eines Aufnahme/Schuss-Opfers aus?

 

JC: Ich meine nicht unbedingt, dass das immer der Fall sein muss. Aber es gibt immer eine Dynamik der Macht. Das Aufnahme/Schuss-Opfer ist ein Opfer der Suchervorrichtung und/oder der Waffe. Ich versuche einen Begriff zu finden, aus dem die ganze Gewalt spricht, die auch von der Kamera und allem, wofür sie steht, ausgeübt wird.

 

RA: Im Anschluss an die Schauspielschule hast du angefangen, selbst Filme und Videos zu drehen. Was hat dich veranlasst, die Seite zu wechseln?

 

JC: Mir macht es Spaß, beide Seiten der Kamera kennen zu lernen. Allerdings gibt es viel mehr als nur diese zwei Seiten. Ich möchte mich in allen versuchen.

 

RA: Du spielst damit wahrscheinlich auf den Einsatz unterschiedlicher Kameratechnik und Kameraperspektiven an – so etwas wie eine postkinematografische Sprache. Ich habe in früheren Interviews von dir darüber gelesen.

 

JC: Ja. Mit dem Einsatz von Überwachungs- und Verfolgungssystemen und ursprünglich militärischen Zwecken dienlichen Aufnahmen, etwa von Nachtsichtkameras oder von mit Kameras ausgerüsteten “Smart-Bomben”, stehen uns alle möglichen neuen Bildformate zur Verfügung. Mich interessiert, wie diese neuen Systeme verinnerlicht und inwiefern sie Teil neuer Bildsprachen werden, die die Kinokonventionen vor neue Herausforderungen stellen, sowie die diesem Prozess innewohnende Machtdynamik. Außerdem interessieren mich die Unterschiede zwischen Boden- und Luftsprachen und das gesamte Lexikon der Analyse und Rekonstruktion am Boden stattfindender Bewegung von der Luft aus.  

 

RA: Wie sieht dein visuelles Vokabular für Trigger aus?

 

JC: Es ist ein Spiel zwischen filmischer (bodengestützter) Überwachung und Satellitenaufnahmen. Außerdem verwende ich ein “Eye-Tracking” Synchronisationssystem, das Waffe und Blick des Kämpfers automatisch in Übereinstimmung bringt, selbst wenn sie nicht miteinander in Verbindung stehen. Dadurch werden filmische Konventionen in Bezug auf Kontinuität und innere Logik hinterfragt und gleichzeitig aktuelle Fragen der vernetzten Verkörperung aufgeworfen. Ich verwende bestimmte Zielerfassungsformate, die eine neue Art der Perspektivkonstruktion ermöglichen – sicherlich in einem mehr militärischen Zusammenhang, jedoch auch als allgemein genutzte Kontrolltechnologien. Insgesamt inszeniere ich das Aufbrechen und Verknüpfen von Blickpunkten verschiedener Mensch- und Maschinensysteme, die mit ganz speziellen – politisierten – Kameraeinstellungen verbunden sind. Die Geschwindigkeit und Effizienz der vernetzten und durch die logischen Datenbankstrukturen sortierten Ströme bilden eine artillerieartige Kraft. Da stellt sich heute mehr denn je die Frage, woraus eine Kamera besteht und was die “agency” dahinter ist – wie man ein komplexes und oft äußerst non-visuelles System visuell darstellen kann.

 

RA: Was meinst du in diesem Fall mit “agency”? Den, der die Kamera führt, oder den Zweck, der hinter dem Einsatz der Kamera steckt?

 

JC: Beides. Die Art und die Beobachtungsgabe des Sehers zusammen mit seiner Intention und seiner Handlungsfähigkeit. Beim Einsatz einer Filmkamera stellen wir uns diese Fragen komischerweise nicht, weil die Filmtechnologie inzwischen etwas Normales ist. Deswegen ist es unter anderem so interessant, mit Militärtechnologie zu arbeiten. Da wir sie noch nicht verinnerlicht haben, fragen wir sofort nach der “agency” dahinter. Worin unterscheidet sich der Blick eines Überwachungssystems von unserem Blick? Der Blick des Militärs von dem Blick der Medien? Das wirft auch die Frage auf, inwiefern unser Blick durch die sehr normal gewordenen Technologien der Massenmedien bestimmt ist und wir unsere eigenen persönlichen Überwachungsmethoden einführen. Wir sagen, “Ich muss mich hier gegen ‘sie’ behaupten”, und befestigen eine Grenze. Wir rechtfertigen einen persönlichen oder anderweitigen Angriff auf einen Gegner, gegen den wir uns behaupten müssen. Es gibt alle möglichen Kampfsituationen im Alltag, alle möglichen Abgrenzungsprozesse, die deutlich machen, wer wir sind und wohin wir uns entwickeln. Das Bunker-Bauen beginnt zu Hause. Das Szenenbild von Trigger beinhaltet Bauten, die an hybride Heimbunker in verschiedenen Baustadien erinnern, womit metaphorisch auf diesen Prozess der Grenzbefestigung an der Heimatfront hingewiesen werden soll.

 

RA: Du sprichst von den drei Bauten, die du als Filmset in der Ausstellungshalle errichten wirst: einen Bunker, eine Holzwand mit Fenster und ein Haus aus Hohlblocksteinen. Aber du verweist auch auf Kampfsituationen im täglichen Leben und auf persönliche Überwachung. Wie sehen die privaten Bunker aus, die wir deiner Meinung nach als Folge zunehmender Überwachung des Alltaglebens errichten?

 

JC: Überwachung kann dazu beitragen, eine Art Sicherheitsblase zu erzeugen – einen Bereich, indem wir uns vor Verbrechen geschützt fühlen. Befestigt wird sie durch Ideologien und Gewohnheiten. Sie ist außerdem Teil eines Subjektivierungsprozesses, eine Blase der Verinnerlichung, die hilft, die Konturen der eigenen Identität festzuschreiben. Da besteht auch ein Zusammenhang zur Ausbildung von Gruppenidentitäten. Dem Ganzen ist eine mobile und vielgestaltige Architektur eigen. Wir haben alle unsere kleinen Beförderungsmittel, in denen wir wie in Autos umherfahren, in einer Kultur, die zwischen der Atomisierung in kleinste Einheiten und großen Vereinheitlichungen oszilliert, wobei sich letztere in Konzepten wie dem nationalen Raketenabwehrsystem niederschlagen.

 

RA: In früheren Interviews hast du erklärt, in den Projekten Drive (1998-2000) und Heatseeking (1999-2000) ginge es hauptsächlich um Bewegung, Strömungen und die Rhythmen des Körpers. Obwohl auch diese beiden Serien einen Gewaltaspekt aufweisen, scheint Trigger viel mehr noch vom Sehen als Waffe zu handeln. Eine jahrzehntelange Zunahme der Kameraüberwachung hat dazu geführt, dass sich die Menschen inzwischen mit dem Gedanken angefreundet haben, ständig beobachtet zu werden. Hat sich die Situation entspannt?

 

JC: Ja. Deswegen sind in diesem Zusammenhang zwei Dinge für mich interessant: Erstens die Erotik, denn es gibt eine sinnliche Lust, beobachtet zu werden, die wir gerade erst entdecken und die mit bestimmten politischen Themen, beispielsweise dem Recht auf  Privatsphäre, schwer zu vereinbaren ist. Beobachtet zu werden, das eigene Privatleben dem Blick eines anderen auszusetzen, kann etwas entschieden Erotisches haben, vor allem für eine jüngere Generation. Das Zweite ist die Politik. Denn wir dürfen nicht die Augen verschließen vor den Kräften, die diese Entspannung fördern. Wann immer Überwachung mit mehr Schutz oder Sicherheit gerechtfertigt wird, ist höchste Alarmbereitschaft angezeigt. Diese kuschelige, freundliche Überwachung – gerechtfertigt im Namen von Annehmlichkeit, Sicherheit, Effektivität und Zuverlässigkeit und stilvoll kaschiert mit einem modernen Dekor – ist eine gefährliche Sache, wenn sie ihre politischen Aspekte verloren hat. Wir reden hier größtenteils nicht mehr von Überwachungskameras, sondern von an Datenbanken angeschlossene Verfolgungsnetzwerke, die in ihrer zunehmenden Omnipräsenz genau so eindringlich sind.

 

RA: Trigger hat etwas entschieden Erotisches und doch hast du einige Szenen mit explizit sexuellem Charakter gestrichen.

 

JC: Diese geplanten Szenen werden alle noch da sein. Ich habe lediglich die Erklärungen gestrichen, weil es so schwierig ist, diesen erotischen Aspekt in Worte zu fassen. Ich habe beschlossen, das erotische Spiel visuell und strukturell durchzuführen, ohne den Wunsch zu verspüren, darüber zu schreiben. Ich möchte darüber keine Theorien aufstellen – es soll vielmehr etwas sein, das die Theorie aufhebt, etwas, das sich unterhalb der Oberfläche abspielt und all die sauberen Schlüsse, die wir ziehen, in Frage stellt. Die Erotik ist gewissermaßen der große Andere. Wir müssen darauf achten, was sie uns erzählt, doch was sie uns erzählt unterliegt nicht unserer Rechtsordnung. Die Frage ist, wie soll man diese Spannung aufrechterhalten und daraus eine Politik ableiten – eine Politik, die scheinbar ihre genaue Antithese beinhaltet.

 

RA: Eine Politik des Erotischen? Da kann ich dir nicht mehr folgen.

 

JC: Ich weiß auch nicht genau, was das bedeutet. Es ergibt keinen Sinn, aber ich schätze, genau darum geht es. Es ist eine Politik, die sich selbst auflösen würde. Irgendwie versuche ich das durch Bilder und Diagramme deutlich zu machen. Es ist wie Lyotards Figur der Matrix – eine “Form”, die Wiederholungen errechnet, die letztendlich aber keine richtige Form, sondern eine Art Antiform ist. Grundlegend könnte man sagen, wenn es einen Eros der Macht gibt, dann gibt es auch eine Politik dieses Eros.

 

RA: Die Erotik ist nicht nur der große Andere, sie ist auch die Variable in der systematisierten Maschine. Wenn ich über die Rolle des Erotischen in einem möglichen elektronischen menschlichen System nachdenke, kommen mir allerlei romantische Vorstellungen in den Sinn wie die “Liebe”, die Gesetze bricht und das Netzwerk kurzschließt.

 

JC: Schön gesagt! Kurzschließt, aber auch neu vernetzt, auf eine vielleicht nicht ganz funktionelle Art.

 

RA: Im Storyboard zu Trigger bezeichnest du den Soldaten als eine integrierte Waffenplattform. Seit Anbeginn der Zeit versuchen Armeen, ihre Soldaten durch Erweiterung ihrer Fähigkeiten effizienter zu machen – in jüngster Zeit mit elektronischen Waffen. Doch seit dem 11. September erscheint Hightech eher als Schwäche denn als Stärke. Schließlich sind die terroristischen Angriffe auf deinen Wohnort New York durch “Lowtech” aber “High Concept” gekennzeichnet. Und das erwies sich als ausgesprochen effizient. Hast du deine Ansichten zur integrierten Waffenplattform dadurch in irgendeiner Form verändert?

 

JC: In allen Bereichen des Militärs werden Anstrengungen unternommen, um das menschliche Netzwerk enger mit dem Rüstungs- und Kampfnetzwerk zu verknüpfen. Im “Land Warrior”-Programm der Armee beispielsweise, das sich zurzeit noch in Entwicklung befindet, sind die Soldaten mit einem Spezialhelm ausgerüstet, der es ihnen ermöglicht, bei allen Wetterbedingungen, Tag und Nacht und mit 360°-Rundumsicht zu sehen. Sie sind an Kommunikationsnetzwerke angeschlossen und erhalten über ein Helmdisplay Echtzeitinformationen, die vor ihrem Gesichtsfeld ablaufen. Das Ziel ist eine effizientere, tödliche, vernetzte Kampfmaschine. Fast schon ein “Borg”, der Soldat als Teil eines “Bienenstock-Bewusstseins”. Es gibt sogar den militärischen Begriff der “Schwärmer”: kleine, wendige, hoch mobile Soldatengruppen, bewaffnet mit einer Fülle von Kommunikationsgerät und vernetzten Waffen und in direkter Verbindung mit schwerer Luftunterstützung. In Afghanistan feuerten Soldaten Handlasergeräte auf feindliche Ziele, die gleichzeitig von Flugzeugen aus mit lasergelenkten Raketen beschossen wurden. Bodentruppen, Satellitensysteme, Flugzeuge und Präzisionswaffen bilden einen nahtlosen Fluss, der von verschiedenen Befehlszentralen aus gesteuert wird. Das ist der Soldat als integrierte Waffenplattform. Ich glaube nicht, dass der 11. September etwas an dieser Idee oder an dem unerschütterlichen Glauben der USA an die Hochtechnologie geändert hat. Was sich dadurch geändert hat, sind die Gründe, mit denen wir verstärkte Militärpräsenz, und verstärkte Polizeipräsenz ganz allgemein, rechtfertigen – bis hin zu einer Art integrierter Überwachungsplattform. Die Öffentlichkeit ist derart verängstigt, dass die Machtinstanzen des Militärs, FBI und CIA, und diverse andere Überwachungs- und Kontrollbehörden zunehmend ein Bedürfnis befriedigen. Ich glaube kaum, dass die USA zugeben würde, dass Hochtechnologie in irgendeiner Hinsicht eine Schwäche darstellt. Es bedeutet einfach nur, dass die Technologie noch nicht gut genug ist.

 

RA: Was ist mit “menschlichen Aufklärern” alias Spionen? Wie in den Filmen über den Zweiten Weltkrieg, wo sich Spione in dunkler Nacht auf Brücken treffen, die Lager der Gegenseite infiltrieren und unter Decknamen agieren. Es scheint, als gäbe es mehr als genug Daten, aber nicht genügend menschliche Ressourcen, um all diese Daten auszuwerten. 

 

JC: Ja, aber der Mensch ist dazu da, um in die Technologie eingespeisen zu werden. Er ist ein Teil von ihr. Die menschliche Aufklärung ist mit der Maschine verbunden. Sie wird durch maschinelle Systeme weitergegeben. Der Mensch wird zu einer notwendigen Komponente – er bleibt nie außen vor. Aber sein Wert besteht darin, für eine Integration mit den Aufklärungs- und Kommunikationssystemen anpassungsfähig zu sein (und vice versa). Die Technologie legt die Bedingungen fest, sie modifiziert die Fähigkeiten des Menschen. Doch letztendlich ist Technologie nur eine Erfindung des Menschen, sein verlängerter Arm. Menschen, Maschinen und Kampfsysteme sind untrennbar miteinander verbunden, und es ist nicht unbedingt klar, wo eine Komponente aufhört und die andere anfängt. Du hast völlig Recht, wenn du sagst, dass es nicht genügend menschliche Ressourcen gibt, um die Daten zu verarbeiten und auszuwerten. Doch wie lautet unsere Antwort darauf? Noch mehr und noch bessere Maschinen zu bauen.

 

RA: Was wäre die Grundlage für eine “integrierte Kontrollplattform”? An Stelle von geladenen “Einzelagenten” hätten wir ...

 

JC: ... ehemals isolierte Datenbanksysteme in einem Netzwerkverbund. Gemeinsame Schnittstellen, um Daten verschiedenen Aufklärungs- und Überwachungsbehörden möglichst gleichzeitig zugänglich zu machen, wodurch das Misstrauen zwischen einzelnen Regierungsbehörden, die traditionell von einander abgeschirmt waren, schwinden würde. Neue Allianzen zwischen Polizei, Militär und der Industrie. Neue Kooperationen zwischen verschiedenen Ländern, um Wissensdaten gemeinsam zu nutzen.

 

RA: Denkst du da an die Privatisierung des Militärs? Ist das Sciencefiction, oder finden tatsächlich Bemühungen in diese Richtung statt, die über die Traditionen der Miliz hinausgehen?

 

JC: Militär und Industrie sind bereits sehr eng miteinander verwoben. Außerdem herrscht zwischen diesen beiden Sektoren eine starke symbiotische Kraft, die es nicht gäbe, wenn sie vollständig ineinander aufgingen. Das Militär ist “Business” mit anderen Mitteln. Es müssen immer noch Alternativmaßnahmen bereit stehen. Wir werden von einem Kriegs- und Arbeitsapparat gestützt. Im Arbeitsleben haben wir ein Werkzeug, im Krieg eine Waffe.

 

RA: Um bei der Frage einer Integration von Polizei, Militär und Industrie zu bleiben: Was hätte dies für Auswirkungen für die Persönlichkeitsrechte? Werden sie deiner Meinung nach obsolet? Dazu fallen mir alle möglichen Schlagworte ein wie “Neue Weltordnung”, “Globalisierung”, “Kampf gegen den Terror” usw.

 

JC: Es hat im Internet so viele Diskussionen zum Recht auf Privatsphäre gegeben, und es wurden zahlreiche Versuche unternommen, dieses überaus dringliche Thema zum Politikum zu machen. Gleichzeitig haben einige Leute versucht, die Scheidelinie zwischen ‘privat’ und ‘öffentlich’ neu zu formulieren, indem sie unter anderem vorschlugen, eine vereinheitlichte Vorstellung von Privatsphäre durch eine heterogene wie “Intimitätszonen” zu ersetzen. Doch zumindest in den USA ist diese Diskussion erfolglos geblieben, das Thema drängt nicht mehr. Die Leute sind bereit, auf Privatsphäre zu verzichten, wenn es für sie ein größeres Maß an Bequemlichkeit, Zeitersparnis und Sicherheit bedeutet – gerade jetzt nach dem 11. September. Die Sorge um Sicherheit lässt jede Sorge hinsichtlich einer bedrohten Privatsphäre vergessen. Damit hat sich dieses strapazierte Thema gewissermaßen erledigt. Es muss daher dringend zum Politikum erklärt werden, gerade in Anbetracht einer fehlenden Opposition zur Ausweitung staatlicher Macht, die einzelne Bürgerrechte bedrohen könnte. Allerdings bedarf die Begrifflichkeit dieser Diskussion einer Überarbeitung. Der Ausdruck “Privatsphäre” muss differenziert werden: er hat zu viele Facetten.

 

RA: Muss Privatsphäre neu definiert werden?

 

JC: Es geht darum, zu entscheiden, was unbedingt geschützt werden sollte und wogegen. Das verändert sich mit der Zeit und den wechselnden Kulturen, es ist keine feste Größe.

 

RA: Stellen wir uns ein Worst-Case-Szenario vor: In zwanzig Jahren ist absolut alles vernetzt, es gibt keine Schlupflöcher mehr. Was dann? Kannst du irgendwelche Voraussagen treffen, wie sich die Menschen verhalten werden? In deiner Arbeit laden die verschiedenen Kameraperspektiven die Atmosphäre auf. Glaubst du, das hätte denselben Effekt auf den Alltag?

 

JC: Neue Ermittlungsmethoden werden immer mit neuen Täuschungsmethoden gekontert. Es ist ein ewiger Tanz zwischen den beiden Strategien. Ich halte eine totale Überwachung für unmöglich. Es wird immer Dinge geben, die unter dem Radar durchschlüpfen. Im Kosovo-Krieg haben wir teure präzisionsgelenkte Raketen auf billige Scheinpanzer abgefeuert. Genau wie das serbische Militär als strategischen Schachzug seinen Radar abgeschaltet hat, um ihre Bodenstationen für die elektronische Luftaufklärung der NATO-Streitkräfte unkenntlich zu machen. Man kann sogar beobachten, wie sich dieser Tanz zwischen Entdeckung und Täuschung in neuen Materialformen niederschlägt. Das beste Beispiel ist die Form des Tarnkappenbombers, der als eine Baureihe von Flachflugzeugen gebaut wurde, um der feindlichen Radarerfassung zu entgehen. Wir selbst wollen alles sehen und gleichzeitig der Entdeckung durch andere entgehen; und unsere Gegner wollen genau dasselbe. Daher bewegt sich der Fortschritt in der Ortungstechnologie weniger wie ein Vektor in eine Richtung, sondern eher wie eine Matrix. Fortschritt verläuft in Matrizen des Entdeckens und Entgehens unter aggressiven Akteuren, die jeweils versuchen, dem anderen einen Schritt voraus zu sein. Daher interessiert es mich mehr, die leistungsfähigeren Überwachungsformen plastisch darzustellen, als nur daran zu denken, dass wir vor der totalen Überwachung stehen. Mich interessieren die genialen Methoden, die wir erdenken, um das Signal zu stören. Es zu übernehmen, es auf eine oft weiche und wogende und gar nicht kantige Art umzuformen. Es ist viel über Voyeurismus geschrieben worden, über die Erotik des Sehens. Doch mich interessiert viel mehr die Erotik des Gesehenwerdens – von einem Beobachter, dessen man sich bewusst ist und die Frage, wie diese mit den Ermittlungsmethoden und der Auflockerung der Aktionsfelder zusammenhängt. Das Spielfeld ist oft nicht dort, wo wir es erwarten, oder nicht den uns bekannten Codes gemäß strukturiert. Trotz des exponentiellen Machtzuwachses der Überwachungstechnologie müssen wir letzten Endes noch immer wissen, wohin wir schauen, und das ist der Raum, der von den Spielern ständig neu formuliert wird. 

 

RA: Kommen wir noch einmal zum klassischen Erzählkino zurück. Jeder hält sich an die Regeln, aber die Liebe setzt sich darüber hinweg. In deiner Arbeiten gibt es jedoch keine richtige “Geschichte”, oder?

 

JC: Eigentlich nicht, obwohl sie eine gewisse erzählerische Zugkraft besitzen und man alle möglichen Geschichten in sie hinein interpretieren kann. Doch ich hoffe, das zu verhindern, genau wie ich hoffe, Gegensatzpaare wie Konstruktion/Anarchie oder Anziehung/Abstoßung zu verhindern. Meine Arbeiten sind wie Systeme aufgebaut, entlang der Linien verschiedener Schaltkreisdiagramme und ich denke, sie haben eher eine matrixartige Struktur, beinahe wie eine Datenbank. Doch ich muss zugeben, dass Trigger für mich – auf einer gewissen Ebene – auch eine Liebesgeschichte ist. Es ist ein Werben zwischen den beiden Akteuren, zumindest in einer Datenbankrealität.

 

Januar 2002

 

Dieses Interview erschien zum Anlass der Ausstellung “Jordan Crandall: Trigger Projekt” vom 6. April – 9. Juni im Edith-Ruß-Haus für Medienkunst in Oldenburg. Die Publikation ist bei Revolver – Archiv für Aktuelle Kunst zu erhalten.